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Interview von John Grande, 3.August 2001

Text von Dr. Uwe Rüth

 

TAKTILE REALITÄTEN

Interview mit Mario Reis, geführt von Stefanie Lucci, 29.12.2003, anläßlich der Ausstellung "Retrospektive 50-20-25", Galerie Dorothea van der Koelen, Jan.-Aug. 2004

S.L.: Zunächst möchte ich Dich fragen, was der Ausstellungstitel "Retrospektive 50-20-25" bedeutet?

M.R.: Das ist ganz einfach. Ich bin 50 Jahre alt geworden, der eigentliche Anlaß für diese Ausstellung; Dorothea van der Koelen und ich arbeiten jetzt seit 20 Jahren zusammen und die Galerie Dr. Dorothea van der Koelen gibt es nun seit 25 Jahren. Außerdem stelle ich einen Querschnitt meiner Arbeiten vor, deshalb Retrospektive.

S.L.: Wenn man sich die Arbeiten der beiden Ausstellungen hier in Mainz anschaut, so fällt auf, dass sich die verschiedenen Werkgruppen, - Naturaquarelle, Zugspuren, Zeichnungen, Knallfroscharbeiten und Ikonen - stark unterscheiden.

M.R.: Ja, aber nur auf den ersten Blick. Vergegenwärtigt man sich nämlich den jeweiligen Entstehungsprozeß als auch die Fragestellungen, die den Arbeiten unterliegen, so wird schnell klar, dass diese Arbeiten eines Geistes Kind sind.
Alle Arbeiten, die hier hängen, entstehen durch die Eigendynamik von Kräften, und mithilfe von Medien, denen ich einen großen Spielraum an "gestalterischer Freiheit" zubillige.
Bei den Naturaquarellen ist das Malmedium das strömende Wasser der Flüsse; das Gestaltungsmedium der Zugspuren sind tatsächlich dahinrasende Züge und die Ikonen entstehen mithilfe von Oxidationsprozessen. Bei den Knallfroscharbeiten sind es echte Knallfrösche, die ihre Schmauchspuren hinterlassen und bei den Zeichnungen bin ich selbst mein Medium, da ich mir die Augen verbinde und mich visuell unreflektiert dem Prozeß hingebe.
Abgesehen nun von der prozessualen Entstehung der einzelnen Arbeiten, finden sich auch inhaltliche Parallelen: So werden zum einen die Kräfte, die am Werke sind, sichtbar gemacht, zum anderen aber begegnet man in diesen Arbeiten dem Phänomen der Zeit. Betrachten wir beispielsweise die Naturaquarelle sowie die Zugspuren, Zeichnungen oder Knallfroscharbeiten, so werden wir uns der Zeit als Bewegung, der Zeit als dynamisches Phänomen bewußt. Zeit im Sinne von Dauer, d. h. also Zeiterfahrung als statisches Phänomen, wird in den Salzikonen visualisiert und, von einem anderem Blickwinkel aus beleuchtet, auch in den Naturaquarellen.

S.L.: Die Naturaquarelle nehmen in den Ausstellungen großen Raum ein. Du zeigt riesige Installationen, die z.T. aus einem Fluß stammen und die vor allem durch ihre gelungene Komposition bestechen. Es sind regelrecht lichtdurchflutete Farbräume und pulsierende Bewegungen, die unbegrenzte Weiten evozieren. Dem Zufall kannst Du das ja nicht überlassen...

M.R.: Natürlich nicht. Der Zufall spielt zwar eine gestalterisch wichtige Rolle im Sinne von Authentizität der Medien, dem Selbstausdruck. Aber ich schaffe die gestalterischen Voraussetzungen. Das heißt, das ich ganz entschieden Einfluß nehme. Es ist immer ein interaktiver Prozeß bei der Entstehung.
Wenn Du Dir z.B. den Gray Copper Creek anschaust, eine Installation aus 40 Teilen, wird mein Einfluß ziemlich klar. Um so eine große Arbeit zu machen, muss ich mindestens 80-90 Arbeiten anfertigen, damit ich hinterher genug Möglichkeiten der Kombination habe. Das reicht aber nicht. Schon bei der Installation im Fluß bestimme ich die Komposition der einzelnen Tücher, indem ich festlege, wo sich mehr Pigmente ablagern und wo hellere Partien bleiben. Das mache ich mittels Steinen, die ich auf die Rahmen platziere und so das fließende Wasser, die Strömung, wie einen Pinsel nutze.
Mir geht es nicht um eine Dokumentation von Phänomenen, sondern um einen ästhetisch erfahrbaren Nachvollzug, der sich in den Bildern niederschlägt. Mir geht es um Malerei und um sinnliche Erkenntnis, die oft unmittelbarer und nachhaltiger ist als der Versuch, alles intellektuell zu erarbeiten. Wenn die Arbeiten gut sind, also kraftvoll, energiegeladen und konzentriert, verschieben sie die Wahrnehmung und der Intellekt folgt dann sowieso. Na ja, natürlich hängt auch viel mit dem Betrachter zusammen, je nachdem, inwieweit er sich mit Kunst auseinandersetzt. Kunst ist eine Sprache wie Musik oder Literatur, der man sich nähern muß, um sie zu verstehen, so wie bei Fremdsprachen. Das fängt mit der Grammatik an und Kunst hat auch Grammatik.

S.L.: Du sagtest grade, es geht Dir nicht um Dokumentation, sondern um Malerei bei den Naturaquarellen...

M.R.: Malerei ist auch immer ein Blick auf die Welt. Meine Naturaquarelle sind darüber hinaus Fenster in die Welt, weil sie Teil der Welt sind. Der Fluß ist Subjekt und Objekt meiner Malereien zugleich und alle Flüsse unterscheiden sich. Diese Differenzen, diese unzähligen Nuancen festzuhalten ist einfach faszinierend. Wir leben z.Z. in einer Welt oder besser in einer Gesellschaft, die am liebsten alles gleich machen würde, weil sie so vermeintlich besser zu bewältigen ist. Aber ich finde es grade wichtig, den Blick für die Unterscheidung nicht zu verlieren und ich hoffe, dass meine Arbeiten dazu beitragen können.

S.L.: Diese Faszination an der Differenz, ist das der Motor, warum Du die Naturaquarelle seit gut 25 Jahren machst?

M.R.: Ja. Es gibt immer wieder ´was neues zu entdecken. Es ist auch aufregend, immer wieder an den gleichen Ort zurückzukehren, zu sehen, dass sich die Ergebnisse sogar farblich unterscheiden. Wie sollte ich es auch schaffen aufzuhören, da dieses Projekt doch weltweit angelegt ist?

S.L.: Aufgrund Deiner Naturaquarelle, die ja nur eine Deiner vielen Werkgruppen ist, wirst Du oft in die Sparte "Kunst und Natur", Landart etc. eingeordnet. Wie siehst bzw. positionierst Du Dich selbst?

M.R.: Ja, ja, das alte Lied. Ab in eine Schublade und damit ist man lebenslang festgelegt. Grenzgänger wie ich haben es extrem schwer, wenn die Leute es sich zu einfach machen. Meine Arbeiten, ob Naturaquarelle, Zeichnungen, Malereien, Zugspuren etc. haben natürlich ihre Voraussetzungen, niemand schafft aus dem Nichts heraus, jeder ist geprägt durch seine Zeit und seine Erfahrungen. Trotzdem kann man meine Arbeiten nicht eindeutig einordnen, da sie viele gesetzte Bereiche überschneiden. Nehmen wir noch mal die Naturaquarelle. Sie berühren einige Bereiche: Farbfeldmalerei, Arte Povera, abstrakte Kunst, konzeptuelle Kunst, Prozeßkunst und realistische Malerei; all diese Aspekte sind in den Arbeiten zu finden. Deswegen ist Landart einfach zu kurz gegriffen und kann die verschiedenen Bedeutungsebenen der Naturaquarelle gar nicht fassen.
Als ich 1977 mit den Naturaquarellen anfing, wuchs erst allmählich das Bewußtsein für unsere Umwelt und ihren desolaten Zustand. Die Grüne Partei war noch nicht gegründet worden und um ehrlich zu sein, meine Motive, mich mit Wasser auseinanderzusetzen, hatten nichts mit ökologischen Erwägungen zu tun. Mich hat einfach das Phänomen des fließenden Wassers interessiert. Ich wollte Flüsse nicht illusionistisch abbilden, sondern zeigen, was die Flüsse wirklich ausmacht und was sie einzigartig macht. So sind diese abstrakten Farbmalereien entstanden, die aber realistischer nicht sein könnten, denn es ist tatsächlich der jeweilige Fluß, in seiner Substanz.
Im Laufe der Zeit hatten meine Naturaquarelle dann einen anderen Impact, da es jetzt ein allgemeines Bewusstsein für Umweltprobleme gibt. Unberührte Natur ist so selten geworden wie sauberes Wasser. Natürlich kann ich nicht bestreiten, dass meine Arbeiten die Natur dokumentieren, es lagern sich schließlich natürliche Pigmente und Mineralien ab und einige wenige Arbeiten zeigen so auch den vermüllten Zustand der Natur. Aber ich verstehe die Naturaqurelle nicht als erhobenen moralischen Zeigefinger. Der funktioniert über das Mittel der Kunst sowieso nicht. Menschen kümmern sich um Dinge, die sie schätzen und lieben. Wenn meine Arbeiten durch ihre Schönheit und ihre inhaltliche Bedeutung Menschen sensibilisieren, so dass sie Natur mehr schätzen und schützen, wäre das phantastisch. Aber ich bin kein Apostel und Kunst kann es auch nicht sein. Ich für meinen Teil habe große ökologische Bedenken, aber das wäre nie ein Grund für mich, einen spezifischen Fluß auszusuchen. Ich muß mich in den Ort, den Fluß, die Farben verlieben. Farben sind dabei ganz wichtig, denn es geht mir um nachwievor um Malerei.

S.L.: Bildschirmtechnologie wie Internet und Fernsehen, computergenerierte Bilder, die Medienkultur und die sogenannte virtuelle Realität vermitteln einem den Eindruck, dass die taktile Lebensrealität sekundär ist. Deine Arbeiten, ob Knallfrösche, Malereien, Zugspuren, Zeichnungen oder Naturaquarelle senden eine andere Botschaft aus. Nämlich, dass die Realität schön ist und ihre eigene Form und Gestaltung hat. Hat Deiner Ansicht nach ein Künstler die Aufgabe, uns ein tieferes ethisches Verständnis zu vermitteln, wie z.B. die Natur - das sind ja auch wir Menschen - wie überhaupt Realität funktioniert, sich äußert?

M.R.: Ich kann nur für mich selbst sprechen. Ich sehe meinen Rolle nicht in der von Dir angesprochenen Form. Meine Arbeiten senden in der Tat die von Dir beschriebenen Botschaften aus, und wenn diese Botschaften Menschen erreichen, ist das ein positives Resultat, denn für mich ist das greifbare, fühlbare Leben das echte Leben. Natürlich kann keiner bestreiten, dass die neuen Technologien wie das Internet neue Formen der Kommunikation eröffnen. Das Internet ist in der Lage, Menschen auf der Ganzen Welt zu verbinden. Aber, Kommunikation von Angesicht zu Angesicht ist essentiell für das menschliche Leben überhaupt. Es beinhaltet lebendige Erfahrungen wie Freude, Vertrauen und Teilen. Gerade Vertrauen ist ein wesentlicher Baustein menschlichen Zusammenseins und ich habe da so meine Zweifel, dass Virtualität Vertrauen und Vertrauenswürdigkeit lehren kann. In gewissem Sinne verbindet das Internet, aber zugleich isoliert und trennt es auch die Menschen.
So ist es auch bei Kunst. Kunst zu erleben ist für mich immer sensuell, fast erotisch. Wir können nicht leugnen, dass wir selbst und die Welt um uns herum taktil ist. Auf lange Sicht gesehen wäre die Idee, dass die taktile Lebensrealität sekundär zu der der Bildschirmabbildung ist, irreführend. Ich sehe die Rolle des Künstlers nicht primär als die eines ethischen Lehrers. Ich verurteile jede Führung, die exklusiv ist und das sind Doktrinen ja, auf die es meistens hinausläuft.
Für meinen Teil, um auf Deine Frage zu antworten, wenn es überhaupt eine Rolle oder eine Aufgabe des Künstlers gibt, dann ist es der Versuch, Menschen zu öffnen, zu sensibilisieren, ihnen neue Erfahrungen zu vermitteln, die ihr und auch mein Leben bereichern.