Download Text von Dr. Uwe Rüth pdf

Interview von John Grande, 3.August 2001

Interview von Stefanie Lucci, 29.12.2003

 

Mario Reis: Die Freiheit der Dinge

Uwe Rüth, Marl


I
Mario Reis versteht sich als Maler, als "traditioneller Maler" sogar, wie er selbst sagt. Es geht ihm, wie er in einem Interview ausführt "um Malerei und um sinnliche Erkenntnis, die oft unmittelbarer und nachhaltiger ist, als der Versuch, alles intellektuell zu erarbeiten".

Deshalb sollte man zunächst alle seine künstlerischen Arbeiten der unterschiedlichen Zyklen - Naturaquarelle, Zugspuren, Frösche, Champagnerkorkendrucke, Ikonen, Zeichnungen usw. - unabhängig ihrer Entstehungsweisen als autonome, sinnliche Kunstwerke auf sich wirken lassen.

I
Die Naturaquarelle ( seit 1977 )
So wahrgenommen, sind die sogenannten ‚Naturaquarelle', seit mehr als 25 Jahre das wichtigste Arbeitsfeld des Künstlers, Farbfeldmalereien mit einer eigenen Ausstrahlungskraft. Steht man einer der großflächigen, mehrteiligen Arbeiten gegenüber - z.B. dem "Gray Copper Creek / Colorado USA" aus dem Jahr 2000 - , ist man schnell überwältigt von deren eindringlicher malerischer Präsenz. Aus 40 quadratischen Einzelpaneelen zusammengesetzt, ergänzt sich dieses Werk zu einer überzeugenden Gesamtkomposition der in die Tiefe des Raumes weisenden, orange-braunen und nuancierenden Farbflächen, die rhythmisch strukturiert über die Gesamtfläche meandrieren. Teils pastos, teils dünnflüssig verlaufend, weist der Auftrag der ‚Farb-Pigmente' die Farbfelder als eng miteinander verbunden aus. Die Sensibilität der Farbabstufungen, mit malerisch überzeugenden Valeurs versehen, bilden ruhige Passagen gegenüber den brüchigen und überraschend ausdrucksstark verlaufenden Konturlinien: Eine Malerei, die angesiedelt ist zwischen der Erregung des Informell und der Ruhe monochromer Bildwerke.

In diesen Arbeiten fließen die Farbformen, alles scheint zu treiben; Bewegung teilt sich in der Abstraktion des Zusammenwirkens der einzelnen Felder mit. Raum und Zeit sind ablesbar im ruhig-bestimmten Strömen der Farbflächen und in deren malerischen Strukturierungen. Landschaften erscheinen in kartografischer Aufsicht als assoziative Eindrücke und versinken zugleich wieder im Gegenstand entbundenen Gesamtzusammenhang, Tiefe zieht den Blick in die Farbwelt, Ebenen breiten sich vor ihm aus.

Die malerischen Elemente dominieren die grafischen Strukturen: Die Eleganz und Weichheit der nuancierten Übergänge, die verhaltene Intensität des Hell-Dunkels und die Kontraste der zur farblosen Transparenz sich aufhellenden Binnenflächen: ein Kosmos von Sinnlichkeit erfährt der Betrachter von dem ‚Gemälde', das vom Künstler sorgfältig durchgearbeitet wirkt.

Inhaltlich scheint in diesen Bildern von Mario Reis die kunsthistorische Entwicklung von Raum und Zeit in der Kunst der Neuzeit und von Landschaftsmalerei im Speziellen zu einer gegenstandsfreien Neuformulierung gekommen zu sein: Vom Aufbruch im Trecento der italienischen Frührenaissance durch Giotto mit dem Beginn der sorgfältigen Perspektivkonstruktion, der durchdachten, konstruktiven Farbbehandlung und den Bewegungsillusionen hin zur Ausgewogenheit der konstruierenden Bildelemente in der Renaissance durch Joachim Patinirs Landschaftsbildern zum Beispiel, mit ihrer Endlosigkeit des irdischen Raumes und ihrer zeitlosen Ruhe bis hin zu Caspar David Friedrichs emotionaler Neuorientierung und geistigen Vertiefung Anfang des 19. Jahrhunderts, so z.B. in dem ‚Mönch am Meer', in dem Mensch, Raum und Zeit zu einer kosmischen Einheit zusammengefasst scheinen, und endlich bis zu Yves Kleins ‚Anthropometrien', in denen der Farbabdruck des weiblichen Körpers eingeht in die Tiefe der monochromen blauen Farbflächen. Mario Reis verwebt in seinen Naturaquarellen Raum und Zeit mit den vom gegenständlichen vollends entbundenen Bewegungs- und Tiefenstrukturen der Farb- und Formverläufen zu einem originären Farb-Form-Erlebnis: Malerei par excellence!

An diesem Punkt der Betrachtung angelangt, wird das Wissen um den Entstehungsprozess dieser Werke notwendig und führt zu einer vertiefenden und erweiternden Erkenntnis: Die einzelnen quadratischen Bilder der Naturaquarelle werden durch das hindurchströmende Wasser eines Flusses ‚gemalt'. Mario Reis legt das auf einen Rahmen gespannte, weiße und unbehandelte Baumwolltuch in das Flusswasser und belässt es dort ca. ein bis zwei Tage. So entstanden die vierzig oben erwähnten Paneele im Gray Copper Creek in Colorado / USA durch dessen die natürlichen Pigmente von Erde, Sand und biologischen Zusätzen mitführendes Wasser. Indem Reis Ort, Zeitdauer und mitunter auch die Strömungsverhältnisse auswählt und bestimmt, ist er der Regisseur des gestalteten Bildes; der Fluss selbst aber entscheidet über Farbigkeit und zum größten Teil auch über die Formgebungen.

Mario Reis kam 1977 in Paris zu dieser neuen Art der ‚Flussmalerei', eines alten Genres der europäischen Kunst innerhalb der Landschaftsmalerei: Während seines Stipendiums in der Cité des Arts waren die Brücken, die Seine und die vielen Maler an dem Ufer des Flusses, die plein air die Flusslandschaft in ganz traditioneller Manier malten, ein eindringliches Erlebnis. Es drängte sich ihm die Frage auf, wie man diese epigonale Allerweltsmalerei durch eine der Zeit entsprechenden, neue Darstellungsweise ersetzen könne. Und so seilte er einen auf den Keilrahmen aufgezogenen Baumwollbildträger von einer der Brücken ab und befestigte die Verbindungsschnur an dem Brückengitter. Das Ergebnis überzeugte ihn direkt: Die Seine malte sich selber, der Künstler wurde zu einer Art Hebamme eines ‚Selbstporträts' des Flusses.

Seit diesen Tagen fährt der Künstler durch die Kontinente und malt gemeinsam mit großen und kleinen Flüssen ‚seine' Flusslandschaften. Die Einzelbilder geben das Innere der Flüsse unmittelbar wieder. Die häufig vielteiligen Arbeiten zeigen aber noch mehr von den Eingriffsmöglichkeiten des Künstlers. Indem er das fließende Wasser durch Steine leicht umlenkt, beeinflusst Reis Strömungsstärke und -richtung und damit die das Gemälde formende und malende Sedimentierung. Er verursacht durch diese Manipulation Wasserwirbel und Turbulenzen aber auch Verlangsamungen ,ja, Beruhigungen der Strömungsgeschwindigkeit des Wassers. Er kann auf diese Weise die Einzelbilder aufeinander abstimmen und diese dann zu einem komponierten Gesamtbild nach seinen eigenen Formvorstellungen zusammenfügen. Alle diese Werke aber - ob einzeln gelassen oder zu einem Gesamtbild zusammengestellt - leben unmittelbar von der gestaltenden Kraft des Flusses, der als ‚Pinsel' fungiert. Die das Gemälde formenden Ablagerungen sind kalligrafische Chiffren, die ‚Inhalte' des Flusses wiedergeben, mitteilen, festhalten: Der Fluss schafft seine eigene Schrift, sein eigenes Bild, sein Porträt, sein ‚Psychogramm'.

1977 in Paris, begeistert von seiner Entdeckung und der Ausdruckskraft dieser ‚Aquarelle', hat Mario Reis diesen Schaffensprozess in Gedichtsform poetisch und sehr anschaulich festgehalten:

"Das Wasser bekommt die Möglichkeit
sein Wesen abzubilden.
es nimmt auf das Tuch,
es tränkt das Tuch,
es befördert das Tuch,
es umschließt das Tuch,
es unterfließt das Tuch,
es durchdringt das Tuch,
es überflutet das Tuch,
es trägt das Tuch,
es drückt das Tuch,
es streift das Tuch,
es wiegt das Tuch,
es fühlt das Tuch,
es verschleiert das Tuch,
es vereint sich mit dem Tuch,
es verwandelt das Tuch.
es gibt dem Tuch ein Teil von seinem Wesen."

Hat der Fluss ausreichend Zeit gehabt, sich darzustellen, dann zieht der Künstler die mit Ablagerungen vollgesogene Baumwollfläche heraus, und es beginnt ein sorgfältig geplanter Prozess der Bildkonservierung: Es wird vorsichtig vom Keilrahmen abgenommen, getrocknet, fixiert und erst dann ist es reif als eigenständiges Bild - einzeln oder im großen Arrangement - präsentiert zu werden. Es ist der Prozess einer Verselbständigung vom unmittelbar zum Fluss gehörigen Abbild zum autonomen Kunstwerk im ‚White Cube', im neutralen Ausstellungsraum. Wirklich eine der heutigen Kunst entsprechende, neue Art der Landschaftsmalerei, gegenstandsfrei, autonom, aber auch nach wie vor unmittelbares Bild des gestaltenden Flusses.

Die Bedeutung von ‚Raum' und ‚Zeit', die wir schon bei der intuitiven Betrachtung in den Bildern fanden, wird uns jetzt ganz klar: Das den Raum durchströmende Wasser und die in der Dauer dieser Reise aufgenommenen Partikel und Sedimente lagern sich in der Zeit des Durchfließens in den Bildträger ein. So sind die Bild formenden Ablagerungen unmittelbare Folge des den Raum und die Zeit durchmessenden Wasserflusses; und beides teilt sich dem Betrachter sinnlich als Malerei mit.

Die Werke von Mario Reis werden häufig der Land-Art zugerechnet, wie sie sich, von den USA und von Israel ausgehend, seit den 60er Jahren als neue Form der Kunst ausgedehnt hat. Zwar reist Mario Reis mit seinem zu einem Studio ausgerüsteten Kleinlaster durch die Natur - inzwischen hat er u.a. ganz Nordamerika bereist - , aber allein das ist sicher kein Kriterium, ihn in diese Kunstschublade einzusortieren. Mir scheint bei genauerem Hinsehen, dass er viel eher einer typisch europäischen Art der Landschafts- und Naturkunst zuzuordnen ist, die durch Künstler wie Helmut Dirnaichner und dessen Erd- und Pigmentbilder und -objekte, Herman de Vries mit seinen Erdinstallationen oder Manfred Hoinkas Steinzerkleinerungen ebenfalls charakterisiert wird. Es handelt sich hierbei um künstlerische Bestrebungen, gemeinsam mit den natürlichen Elementen Ausdruckschemata zu finden, und auf diese Weise zu veranschaulichen, wie Mensch und Natur wieder zu einer organischen Zweisamkeit gelangen könnten.

II
Die weiteren Zyklen
Ähnliche Beobachtungen wie die hier bei den Naturaquarellen gemachten, sind an den weiteren Werkzyklen von Mario Reis anzustellen. Ihre Eigenarten scheinen sie auf den ersten Blick zwar zu separierten Schöpfungen zu machen, und allein die Experimentierfreude des Künstlers nachzuweisen, doch ein zweiter, vertiefender macht eine grundsätzliche Konzeption der Arbeitsweise des Künstlers offensichtlich.

Die Zug-Spuren ( ab 1978 )
1978 verbrachte Mario Reis einen einmonatigen Gastaufenthalt auf dem Bahnhof Rolandseck bei Bonn. Hier erlebte er die durch den stillgelegten Bahnhof hindurchrasenden Züge und die Faszination hierüber ergriff ihn. Er wurde berauscht von der urweltlichen Kraft der vorbeirasenden Lokomotiven; er verinnerlichte Geschwindigkeit und Materie als ein sinnliches Erlebnis von Energie par excellence. Nachts schlich er zu den Gleisen, legte sich in ihrer Nähe auf den Boden und überließ sich seinen Emotionen, wenn der Zug mit den Waggons vorbei donnerte.

Dieses Erlebnis bildnerisch festhalten zu wollen, brachte ihn auf die Idee, Züge über Bildträger - langsam oder schneller - fahren zu lassen. Auf diese Weise entstand der Zyklus der ‚Zugspuren'. Reis nahm als Träger dieser Spuren unterschiedliche Materialien: Leinwand, Pappe, Holz, Blei. Die verschiedenen Materialien und die Variation der Geschwindigkeiten der sie überfahrenden Züge brachten natürlich unterschiedliche Ergebnisse hervor. Alle diese Bilder aber werden geprägt durch ein erstaunliches gemeinsames Phänomen: Die festgehaltenen Spuren zeigen ein sensibles, feines Geflecht an Linien, Rissen, Sprengungen, die zwar Beweis der einwirkenden Kräfte sind, aber nie roh, brutal oder gar unästhetisch wirken. So zeigt sich, dass Energie, Masse und Geschwindigkeit (E = m x c2 !) ein ästhetisch fein gewobenes Netz an sinnlich wahrnehmbaren Spuren in der von ihnen gezeichneten Materie hinterlässt. Mario Reis hat diese in seinem persönlichen Erlebnis, an den Schienen unmittelbar liegend - horchend, fühlend, sehend - ebenso erfahren, wie dann in den Ergebnissen seiner künstlerischen ‚Aufzeichnungen' festgehalten und veranschaulicht: Die Bilder sind beeindruckende Zeugnisse von diesen drei auf einander einwirkenden Zuständen: Energie, Masse und Geschwindigkeit.

Auch hier lässt der Künstler die Spuren durch den Druck der über die Bildträger fahrenden Räder der Züge entstehen: Er ‚lässt' mitteilen, wie er das strömende Wasser der Flüsse erzählen lässt: Er bleibt auch hier der lenkende Regisseur, der Bildträger, Geschwindigkeit des Zuges, Länge der Spur und schließlich die endgültige Auswahl bestimmt und zum eigentlichen Kunstwerk erklärt, - aber das Ausdrucksgefüge selbst, die sensible Prägung, Linierung und Zerstörung der Bildträger werden allein durch das Geschehen selbst, durch die Kraft der sich über sie hinweg bewegenden Masse gestaltet.

Die Champagner-Bilder ( 1979 )
An formal strenge Rasterbilder konstruktiv arbeitender Künstler erinnern die quadratischen Bilder, die Mario Reis 1979 schuf: Er nahm den Korken einer Champagner-Flasche und drückte die mit Stempelfarbe versehene untere Fläche des Korkens mit der Kraft seiner Hand auf die Bildfläche. In quadratischer Form und gradliniger Reihung entstanden auf diese Weise die seriellen Raster. Die einzelnen Korkenabdrucke aber variieren stark in ihrem Helligkeitswert zwischen Schwarz und hellem Grau durch die unterschiedliche Kraft, die der Künstler beim Stempeln aufgewendet hat sowie durch die wechselnde Farbkonsistenz. Die Unterschiedlichkeit aber löst die Strenge der Bildkonstruktion auf, und vermittelt ein ‚optisches' Prickeln, das gefühlsmäßig dem perlenden Champagner zu entsprechen scheint.

Mario Reis zeigt sich in diesen Arbeiten als ein Künstler, der mit hintergründigem Humor und mit verspielter Leichtigkeit die häufig trockene Ernsthaftigkeit konstruktiver Kunst konterkariert. Aber auch die impressionistische Struktur des Korkenabdruckes selbst, also das, was der Künstler nicht beeinflussen kann, gibt den Champagner-Bildern jene ‚lichtflirrenden Effekte' ( Hiltrud Schinzel ). Dass die Titel, die Reis diesen Werken gibt, den jeweiligen Namen der Champagner-Sorte aufnehmen, die in der mit dem benutzten Korken verschlossenen Flasche enthalten war, bringt ein zusätzliches lächelndes Augenzwinkern ein.

Die Feuerwerk-Arbeiten ( seit 1984 )

Auch die seit Mitte der 80er Jahre entstehenden Knallfrosch-Arbeiten sind nicht ohne die humorvolle Verspieltheit des Künstlers zu verstehen. Er befestigt oder legt unverbunden kleine Feuerwerkskörper auf den Bildträger - meist aus Pappe oder Papier -, und bringt sie zur Explosion. Sowohl die hierdurch entstehenden Schmauchspuren als auch die zerstörten Knallkörper selbst fixiert er und erhält so erneut die Spuren von Vorgängen, deren Voraussetzungen er zwar geschaffen hat, die sich aber selbst abbilden und wiedergeben. Das Festhalten und Aufzeigen der Spuren von den Verbrennungs- und Zerstörungspotentialen der Feuerwerkskörper - mögen sie am (Bild-)Träger befestigt oder nur locker aufgelegt gewesen sein - weisen auch hier wieder auf ein zeitlich vergehendes Geschehen hin, das sich in den Werken aber bleibend festgeschrieben hat. Wie bei den Champagner-Bildern bilden die vom Künstler gegebenen Titel in ihrer humorvollen Doppelbödigkeit einen wichtigen Teil der Arbeiten: "...und ich dachte du wärst ein Prinz" (ein Knallfrosch) oder "exotic dreamer" weisen auf die märchenhaften, verträumten Erwartungen hin, die in die Knallkörper seit eh gesetzt wurden ( beginnend schon bei ihren Erfindern, den Chinesen ) und die jäh mit der Detonation sich auflösen. Hier zeigen sich der menschliche Spaß an der Eigenart des Sinnlosen und die immer erneute Sehnsucht des Menschen nach sur-realen Erscheinungen und Begebenheiten ( ich wünsche mir, es gäbe einen Knall, und...) , die aber immer aufs Neue enttäuscht wird.

Die Ikonen ( Oxidationsbilder ) ( seit 1988 )

‚Ikonen' nennt Mario Reis die verhältnismäßig kleinformatigen Salzbilder, die er nach einer Reise durch Afrika 1988 begann. Dort hatte er eine skurrile ausgetrocknete Landschaft erlebt, die mit einer Salzschicht überzogen war. Bei den Oxidationsbildern fügt er mit Goldstaub versehene Salzschichten - bis zu dreißig - übereinander und bringt diese durch Wasserzusatz zum oxidieren. Er steuert den Prozess dadurch, dass er ‚enthydriert' ( das Wasser wieder entzieht ), wenn ihm das optische Ergebnis genügt. So entsteht die typisch grüne Färbung dieser Bilder. Darüber hinaus gestaltet der Künstler die Oberflächentextur indem er die Schichten auf- und abträgt sowie mit den Händen und Fingern Strukturen in die Oberflächen einprägt. Er lässt durch den Oxidationsprozess einmal mehr die Materie ihr eigenes Abbild ‚schaffen', beeinflusst dieses jedoch durch von ihm gesteuerte Eingriffe.

Auf diese Weise formen sich suggestive, zeitliche Prozesse einfrierende Bilder, die in ihrem Ausdruck rein, erhaben und in sich ruhend wirken. Ihre ästhetische Wirkung ist ein Strahlen aus sich selbst heraus, ist eine Aura der Unmittelbarkeit. Sie zeigen Ikonen in dem Sinne, dass sie nicht abbilden, sondern sich selbst, ihr Entstehen und ihr Sein direkt darstellen, so wie die Ikone nach orthodoxem Glauben den dargestellten Heiligen nicht abbildet, sondern ihn unmittelbar wiedergibt.

Die Blindzeichnungen ( seit ca. 1980 )

Mario Reis lässt aber nicht nur die Dinge und deren Wirkweisen sich mitteilen, sondern er hat sich selbst ebenfalls zum Medium der eigenen Kunst gemacht. Dies, so könnte man sagen, ist im Werk eines jeden Künstlers notwendiger Weise so. Reis aber geht auch hier konsequent einen Schritt weiter: In dem er sich die Augen verbindet, verschließt, nimmt er sich die normale Kontrollfähigkeit des Bildenden Künstlers und versucht unmittelbar die Ausdrucksintensität seines Inneren sich mitteilen zu lassen. Die Idee zu solchen Zeichnungen kam ihm während eines Arbeitsbesuchs mit der Uecker-Klasse 1980 in einer Nervenheilanstalt. Diese Aufzeichnungen seiner eigenen inneren Zustände durch seine Hände hat er in zwei unterschiedlichen Formen der Blindzeichnungen geschehen lassen: In aktiven und passiven Zeichnungen.

Bei den aktiven Zeichnungen greift Mario Reis auf den Zeichenstrich zurück, der mit dem Stift bewusst aber nicht durch das Auge kontrolliert gemacht wird. Stefanie Lucci beschreibt diese Variante seiner Zeichnungen als "ein bewusstes Aufschreiben seiner momentanen Verfassung als auch ein bewusstes Reagieren auf Tönen". Der Künstler setzt mit verbundenen Augen in einer vorher bestimmten Zeit ( meist 12 Minuten ) Linien und Punkte in schneller Folge auf das Papier. Dabei hat er den oder die Stifte angebunden an seine Finger oder hält sie locker in einer oder in beiden Händen. Wichtig hierbei sind die Geräusche, die das Setzen der Linien und Punkte machen: Es sind die Kontrollinstanzen seiner Bewegungen für die Strich- und Punktfolgen. So bilden sich rhythmische Strukturen auf dem Blatt, die durch das lauschende Ohr gelenkt werden. Da das Auge als analysierendes und intellektuelles Organ mehr den konstruktiv und denkend arbeitenden Menschen anregt, das Ohr aber intuitiver und emotionaler aufnimmt, reagiert und den Menschen beeinflusst, sind die künstlerischen Ergebnisse dieser Zeichnungen auch eindeutig in diese Richtung gesteuert. Punkte und Linien wirken wie dichte Ballungen mit Eruptionen, wie spontan gesetzte Gefühlsknoten, die sich teilweise in dichten Sträußen von Linien locker öffnen, teilweise wild explodieren oder wie Raketenschweife das Papier überziehen. Auch zu diesen Werken hat er eine lyrische Interpretation 1980/81 gegeben, in der er die Ergebnisse bezeichnet als:

"manifest der impulse
wortlose artikulationen

Die passiven Zeichnungen lassen selbst die letzten bewussten Steuerungsmöglichkeiten des Künstlers weg. Sie konzentrieren sich gänzlich auf die inneren Bewegungen, die sich unbewusst manifestieren und sich spontan in den Schwingungen, Bewegungen von Armen und Händen wiederfinden. An den Fingern - nur an zwei oder auch an allen zehn - sind die Stifte festgebunden. Nun streckt der Künstler seine Arme aus und hält die Stifte auf den Zeichengrund: bis zu einer Stunde dehnt er diese Prozedur aus. Auch hierbei sind die Augen verbunden, alle Bewegung ist ungesteuert, direkt.

Die Zeichnungen erfahren den unmittelbaren Erregungszustand des Inneren. Sie bilden feine Linienballungen, die wie ein locker zusammengedrücktes Drahtknäuel ineinander verflochten sind, willkürlich und ohne ordnende Rhythmen, aber fein, sensibel und zerbrechlich in den Verläufen der Striche. Es sind die unreflektierten, ungesteuerten Manifestationen der psychischen Situation durch äußerste Konzentration, ja, Kontemplation des sich zur Ruhe zwingenden Schöpfers.

Diese unmittelbaren Mitteilungen aus seinem Inneren werden durch drei vom Künstler vorgegebene Bedingungen gelenkt: Durch die Begrenzung der Zeit sowie durch die Art und die Menge der Stifte. Also auch hier, wie bei den Naturaquarellen und den anderen Zyklen das gleiche Konzept: Der Künstler gibt bestimmte formale Parameter vor, ansonsten lässt er das Medium selbst ohne Beeinflussung sich darstellen. So entstehen Selbstporträts der inneren Zustände.

Zusammenfassung

Die wichtigsten Zyklen des Reisschen Werks habe ich hier vorgestellt. Alle diese wurden wiederholt einzuordnen versucht in die unterschiedlichen Schubladen der Kunsttendenzen der letzten 30 Jahre: Der Konzeptkunst, der monochromen Malerei, arte povera, Prozess Kunst, land art, der informellen Kunst u.a. Richtungen wurden sie zugewiesen, aber gerade an dieser Aufzählung kann man sehen, dass eine eindeutige Zuordnung nicht vorzunehmen ist. Von allen haben die Werke etwas, die einen mehr von dieser, die anderen mehr von jener Kategorie, doch bei genauerem Hinsehen bleiben sie eindeutig nicht fassbar. Mario Reis und seine Werke sind insofern traditionell, dass sie Bildwerke sind, die das Auge als aufnehmenden Sinn unmittelbar und direkt ansprechen. Nicht das Konzept, nicht das Material, der Entstehungsprozess oder gar die Landschaft in der sie entstehen sind die wichtigsten Komponenten zur Qualitätsfindung, sondern die ästhetischen Sinneseindrücke der Kunstwerk im Ausstellungsraum bilden ihre maßgebenden und entscheidenden Beurteilungskriterien. Nicht, dass die aufgezählten Momente unbedeutend in der Gesamtanalyse der Werke wären, im Gegenteil, sie sind wichtiger und unmittelbarer Bestandteil der Bedeutungsstruktur des Werkes, aber eben nur als sekundäre Elemente.

Mario Reis bringt ausgewählte Dinge der Welt exemplarisch zum Sprechen: Von den Flüssen, über Rosenblüten und Feuerwerkskörper zu Champagnerkorken und seinem ansonsten der Welt verschlossenem, eigenen Inneren; von der Natur über das künstliche Produkt des Menschen bis zur Psyche des Menschen.

Er, der Künstler, lässt formen: Er gibt den Dingen die Grenzen und die Freiheit, ihr ureigenes Wesen mitzuteilen, ihr Inneres in sinnlich wahrnehmbare Ausdrucksformen zu überführen, die wiederum dem Betrachter die Möglichkeit erschließen, dieses verborgene Sein des Mediums zu entschlüsseln. Er zeigt auf diese Weise, dass die Dinge leben, d.h. dass sie Raum und Zeit mit ihrem in den Werken sichtbar gemachtem Wesen individuell durchstreifen und charakterisieren.

Mario Reis macht in seinen Zyklen das innere Wesen der zum Kunstgegenstand erhobenen Dinge sinnlich zugänglich durch deren freiwillige Selbstäußerung in Zeit und Raum.

Viel schöner und lyrischer hat der Künstler dies ausgedrückt, hier unmittelbar bezogen auf seine Blindzeichnungen:


manifest der impulse
wortlose artikulationen

impulse
die sichtbar werden
emotionen
die halt finden
sich manifestieren

gedankenimpulse
lavaströme
mechanische bewegungen
fluten
zu den fingerspitzen
ein schiff nimmt auf
die ruhe
den sturm
die schwingungen
bringt hervor
stellt dar

sichtbare impulse
gehaltene emotionen
pulsieren

mario reis 1980/81

© Uwe Rüth, Marl